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| Copyright: Dumont Informationen: Titel: 22 Bahnen Autor/in: Caroline Wahl Verlag: Dumont Seitenzahl: 208 Preis: 14,00 € Link: hier |
Inhalt
Tildas Tage sind durchgetaktet: Sie studiert Mathe, arbeitet im Supermarkt, kümmert sich um ihre kleine Schwester Ida und manchmal auch um ihre alkoholsüchtige Mutter. Während ihre Freunde nach Berlin oder Amsterdam gezogen sind, ist sie in der Kleinstadt geblieben. Immerhin muss jemand Verantwortung in der Familie übernehmen. Doch dann wird ihr eine Promotionsstelle in Berlin angeboten, die Freiheit bedeuten könnte. Und dann taucht auch noch Viktor auf, der genau wie Tilda täglich 22 Bahnen schwimmt. Als Tilda glaubt, dass alles gut werden könnte, gerät die Situation zuhause jedoch vollends außer Kontrolle.
Meine Meinung
22 Bahnen ist eine Geschichte, die aus rein künstlerischer Sicht meiner Meinung nach gut erzählt wird. Der Autorin ist es gelungen, eine ganz eigene Welt aufzubauen, in der man beim Lesen komplett verloren geht. Ich mochte die Atmosphäre und bin schnell in die Geschichte reingekommen. Vor dem Lesen hatte ich die Sorge, dass ich mit dem eher abgehackten Schreibstil der Autorin Probleme haben könnte, aber dieser hat mir dann sogar sehr gut gefallen, da er zu Tildas rationaler Denkweise passt und wirklich die Stimme einer Mathestudentin einfängt. Berührt hat mich vor allem die Beziehung zwischen ihr und ihrer kleinen Schwester Ida, die auf unendlich viel Liebe aufbaut und beide stärkt. Neben all dem Schmerz bieten sie viele herzerwärmende Momente und ihr Band ist etwas Besonderes.
Auch gut beschrieben wurden die komplizierten Gefühle zu ihrer alkoholsüchtigen Mutter - in manchen Momenten verspürt Tilda Wut und Verzweiflung, aber gemischt darin steckt nun einmal auch Liebe. Die Momente, in denen es der Mutter gut geht, nehmen einen emotional mit, aber es wird auch sehr deutlich, wie wenig sich die Schwestern auf diese einlassen können, weil sie wissen, dass sie nur von kurzer Zeit sind.
Die Liebesgeschichte nimmt nicht so viel Raum ein wie erwartet, aber ich mochte die stille Entwicklung und dass sich Viktor und Tilda auch ohne großes Erklären verstehen. Es war auch schön zu verfolgen wie Tilda dadurch jemanden trifft, der sich um sie sorgt und diese naiven Verliebtheitsgefühle wurden süß beschrieben.
Betrachtet man 22 Bahnen allein wie ein Kunstwerk, finde ich es gut, aber es gibt in Bezug auf die behandelten Themen Armut und Aufwachsen mit alkoholsüchtigem Elternteil Punkte, die auf mich unrealistisch gewirkt haben, wodurch ich nicht ganz in die Geschichte tauchen konnte. Zum einen scheint die Familie so gut wie keine Probleme mit dem Jugendamt zu haben, obwohl z.B. Idas Lehrern auffallen müsste, dass sich Tilda um alles kümmert, da sie z.B. auch Elterngespräche übernimmt.
Dann hat mich die Beschreibung der Wohngegend irritiert. Sie leben im einzigen Mehrfamilienhaus in einer Straße voller Einfamilienhäuser mit Familien, denen es gut zu gehen scheint. Das klingt nach einer eher guten Wohngegend und in einer solchen wären selbst Mietwohnungen teurer (Das wurde im Film realitätsnaher gezeigt). Auch hat es beim Lesen auf mich so gewirkt, als ob sie nicht so arm sind wie die Autorin gerne darstellen möchte. Sie können sich nämlich tägliche Einkäufe und Schwimmbadbesuche leisten und von Verzicht liest man mit Ausnahme von der Entscheidung Eigenmarken-Produkte im Supermarkt zu kaufen, weniger. Überhaupt hat mich der Marken-Fokus gestört und ich habe mich gefragt, ob Kinder in Idas Alter in Supermärkten wirklich auf den Unterschied zwischen Eigenmarken- und Marken-Produkte achten.
Auch scheint Tilda alles sehr leicht zu gelingen, aber in Wahrheit ist für viele ein sozialer Aufstieg in ihrer Situation schwierig und es gibt Punkte, auf die die Autorin nicht eingeht - z.B. dass man sich in Tildas Positionen an der Uni nicht ganz zugehörig fühlen kann neben Studierenden aus finanziell besser aufgestellten Elternhäusern und gerade an Gymnasien es leider auch zu Mobbing kommen kann, wenn man finanziell nicht „mithalten“ kann - leider gibt es sogar Lehrer, die einem wegen familiärer Umstände weniger zutrauen können. In Bezug auf das Thema Alkoholsucht hat es mich etwas gewundert, dass Tilda trotz der Verantwortung für ihre Schwester mit Freunden auch trinkt.
Alles in allem hat sich das Buch auf mich dadurch eher wie eine Illusion der behandelten Themen gewirkt statt einer tiefgründigen Auseinandersetzung. Auch wirkt es wie von einer privilegierten Person für andere Privilegierte geschrieben, statt Betroffene. Das hat mich beim Lesen manchmal unwohl fühlen lassen. Da ich aber selbst nicht so aufgewachsen bin, kann ich das nicht beurteilen und in Rezensionen liest man von Betroffenen unterschiedliches.
Die Freundschaften habe ich auch schwierig gefunden. Marlene scheint mehr an sich zu denken und Tilda nicht zu verstehen, dass auch Menschen, die aus reichen Familien kommen, Probleme haben können. Dadurch wirkt ihre Sichtweise sehr einseitig. Das ist aber kein Kritikpunkt, sondern beschreibt nur einen Charakterzug Tildas und schon oft habe ich erwähnt, dass Buchfiguren nicht perfekt oder etwa sympathisch sein müssen.
Einen Punkt würde ich gerne noch erwähnen: Ich habe bei jemanden gelesen, dass man das Buch auch als eine Abstiegsgeschichte betrachten kann, weil die Mutter Akademikerin ist und das ist eine interessante Sichtweise, die ich hier mitaufgreifen möchte, weil das Buch dadurch zeigt, dass es jeden treffen kann und nicht nur Personengruppen, die man klischeehaft mit dem Thema Alkoholsucht in Verbindung bringen würde.
Allein aus künstlerischer Sicht habe ich die Geschichte also gut gefunden, aber einige Punkte sollten meiner Meinung nach beim Lesen reflektierter betrachtet werden bzw. man sich bewusst sein, dass es für Betroffene anders aussehen kann und vielleicht mit ihren Sichtweisen beschäftigen.
Fazit
Eine wirklich gut erzählte Geschichte über die starke Bindung zweier Schwestern, in der nur manche Punkte etwas unrealistisch auf mich gewirkt haben.

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